68 Exposure
Einen Augenblick starrte ich sie mit offenem Mund an. „Er wird was?“
„Sterben“, sagte sie so leise, dass ich es fast nicht verstand. Dann ging sie zum Fenster und sah nachdenklich hinaus. Von dort aus blickte man nicht auf die riesige Terrasse, sondern direkt auf die Straße. Für einen Moment starrte sie hinunter und wirkte sehr in sich gekehrt.
„Und wie kannst du das verhindern?“, fragte ich, immer noch ziemlich ratlos.
„Indem ich ihm mein Knochenmark und mein Blut gebe“, sie hauchte es fast nur. So als hätte sie Angst, dass ich es hören könnte.
„Hat er so was wie Leukämie?“ Ich trat neben sie ans Fenster, und blickte ebenfalls hinaus. Unter uns tobte das Leben einer pulsierenden Großstadt. Autos fuhren durch die Straßen, Menschen liefen hektisch hin und her. Von dem Geräuschpegel war durch die Fenster nichts mehr zu hören, aber selbst so, war es faszinierend einfach zuzusehen, wie viele Menschen sich an einem Fleck sammeln konnten. Jeder hatte eine Geschichte, jeder hatte ein Leben, genau wie ich und Bella.
„Nein“, seufzte sie nach einer Weile. „Schlimmer. Es nennt sich multiples Mylenom. Dabei handelt es sich um eine Krebserkrankung des Rückenmarks. Vorrangig greift es die Knochen an, und führt zu einer Anämie. Das Problem ist, dass es bei Aro relativ spät erkannt wurde. Der Arzt hielt es erst für Osteoporose. Nach seiner Diagnose hat ihm der Arzt noch drei bis vier Jahre gegeben. Mit Chemobehandlung.“
„Wie lange ist das jetzt her?“
„Sieben Jahre.“
Das waren mehr als fünf. Und deutlich mehr als drei bis vier. War es wirklich so, dass sie ihn am Leben hielt? Dass er auf sie angewiesen war? Abhängig von ihrem Blut?
Wie ein Vampir...
„Aber wieso ausgerechnet du?“, erwiderte ich etwas lauter. „Es gibt 300 Millionen Menschen in den USA. Wie hat er da gerade dich gefunden? Pullman ist ja nun kein Vorort von New York, oder? Gab es keinen besseren Spender? Es kann doch nicht nur dich geben!“ Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, warum seine Wahl ausgerechnet auf meine Bella gefallen war. Vielleicht wäre sie zu mir zurückgekehrt... irgendwann.
Ich redete mich etwas in Rage, aber irgendwie kam mir so langsam der Verdacht, dass der Typ sich ihre Situation zu nutze gemacht hatte. So eine alleinstehende Schwangere war ja ein leichtes Opfer, vor allem wenn man bedachte, wie jung sie zu dem Zeitpunkt noch gewesen war. Jung und leicht zu beeinflussen…
Bella legte ihr Hand an die Scheibe und sah weiter hinunter, ohne mich anzuschauen. Es fiel ihr leichter ihre Geschichte zu erzählen, wenn sie mir nicht in die Augen sehen musste. „Nein. Aro und ich…wir sind beide eine Laune der Natur...irgendwie. Obwohl…eigentlich ist die Bezeichnung auch nicht richtig. Ich denke….etwas Besonderes trifft es besser. Ja, so hat er uns immer genannt…wir sind etwas Besonderes. Wir haben beide Blutgruppe AB, Rhesusfaktor negativ, Kell-positiv. Alleine das AB-negativ reduziert die Auswahl schon erheblich. Aber das Kell-positiv lässt es zur Nadel im Heuhaufen werden. Und dann gibt es ja noch weitere Werte, die passen müssen. Beim Blut ist es nicht ganz so schlimm, aber für das Knochenmark muss alles stimmen.“
„Aber irgendwie hat er dich doch dann trotzdem gefunden, oder?“ Wie findet man so jemanden? So weit ich wusste, war Bella nie Blut spenden gewesen, oder hatte sich typisieren lassen. Er hatte ja bestimmt keine Anzeige aufgegeben, woraufhin sie sich gemeldet hätte. Bella hatte damals ganz andere Sorgen. Wie sie unsere Zwillinge durchbringen sollte, zum Beispiel. Ihre Erklärung kam aber sofort und ich schüttelte den Kopf über meine eigene Naivität.
„Während der Schwangerschaft wurde mir Blut abgenommen. Für die üblichen Test, Toxoplasmose, Clamydien und solchen Kram. Da mein Arzt nicht genau wusste, wie er sich in meinem Fall verhalten sollte, hat er eine Probe nach Seattle geschickt. Und Aro hatte Anfragen in allen größeren Krankenhäusern des Landes laufen.“ Ihre Fingerkuppen tippten nervös auf der Scheibe herum. Es war nicht leicht für sie, darüber zu reden.
„Anfragen?“ Ging das denn so einfach?
Ich hätte gerne einmal AB-negativ, Kell-positiv bitte... möglichst weiblich, jung und hübsch... schwanger wäre auch toll...
„Er hat die Labore bestochen“, kam es leise. „Mit genügend Geld geht alles.“
So viel zu meiner Welterfahrenheit! Der Kerl war vielleicht krank, aber er hatte Geld wie Heu. Natürlich kam er an alle Informationen ran, die er benötigte. Doch eines machte mich noch stutzig.
„Und warum wusste dein Arzt nicht, wie er sich verhalten sollte? Du warst doch schwanger und nicht krank, oder?“
Bella drehte ihren Kopf, so dass sie mich direkt ansah. „Rhesusfaktor negativ, Kell-positiv, Zwillinge... ich war das Bilderbuchbeispiel einer Risikoschwangerschaft“, ratterte sie runter, als würde das alles erklären. Sie seufzte. „Einen solchen Fall wie mich hatte der Arzt noch nie gehabt. Verständlicherweise.“ Sie schnaubte. „Er hatte einfach Angst, dass es Komplikationen geben könnte. Und wollte sich diese Bürde nicht auferlegen.“
„Aber Aro kam dann doch nicht etwa einfach anmarschiert, und hat gesagt, dass er dein Blut braucht, oder?“
„Nein“, sie schüttelte den Kopf und wandte den Blick dann wieder aus dem Fenster. „Er hat ein 'zufälliges' Treffen im Krankenhaus arrangiert. Wir haben uns im Wartebereich öfters getroffen und einfach unterhalten. Über belanglose Sachen. Er hat mir erzählt, er wäre wegen seiner Krankheit dort. Aber ich traute mich nicht zu fragen, was er hatte. Er sah damals schon ziemlich schlecht aus. Ich hatte da schon auf eine Art Krebs getippt. Als Jake mal nicht mitkonnte, hatte Aro mich einfach gefragt, wo denn der Kindsvater sei. Da hab ich ihm alles erzählt. Es tat einfach gut, mit einer neutralen Person darüber zu reden.“
Für einen Moment herrschte Stille, und ich versuchte das alles irgendwie in meinem Kopf zu ordnen.
Der Typ hatte wirklich riesiges Glück gehabt. Findet einen potentiellen Spender, der gerade versucht seine Vergangenheit zu begraben. Fand jemanden wie Bella, die es durch ihre schier endlose Hilfsbereitschaft nicht übers Herz brächte, jemandem einfach seinem Schicksal zu überlassen. Sie war jemand, der immer erst an andere dachte und dann an sich selbst. Aro Volturi hatte sich das zunutze gemacht, um sein Überleben zu sichern, aber dabei ihr Leben einfach vereinnahmt. Er absorbierte sie einfach, im wahrsten Sinne…nahm sich ihr Blut, ihr Rückenmarkt….Ihre Stimme durchbrach meine wütenden Gedanken.
„Irgendwann erzählte er mir dann von seiner Krankheit“, fuhr Bella auf einmal fort. „Und offenbarte mir, dass ich seine einzige Chance wäre, noch ein wenig länger zu überleben. Dann hat er mir einen Deal angeboten.“
„Einen Deal?“
„Er würde dafür sorgen, dass meine Kinder und ich versorgt wären. Dass ich mir nie Gedanken machen bräuchte, wenn ich ihm Gegenzug bei ihm bleiben und ihm mein Blut und Knochenmark zur Verfügung stellen würde.“
Ich schluckte. „Also hast du tatsächlich… deinen Körper verkauft?“ Langsam schüttelte ich den Kopf. Es von ihr selbst zu hören, war ganz anders, als es nur zu vermuten. „Wie konntest du nur so etwas tun? Bist du jetzt sein lebendes Ersatzteillager, oder was? Wie oft braucht er denn was?“
Bella zuckte unter meinen harschen Worten etwas zusammen. „Knochenmark alle zwölf Wochen, Blut, je nach dem, was der Arzt sagt, etwa alle zwei Wochen.“ Sie sah mich nicht an beim Sprechen.
„Das ist wirklich das abgefuckteste, was ich je gehört habe, ehrlich!“ Ich redete mich erneut in Rage. „Du kannst doch nicht deinen Körper hergeben für... für Geld. Das ist krank!“
„Du reagierst fast genauso wie Jasper“, kam es leise von ihr.
Jasper? Er wusste auch davon?
Sie drehte ihr Gesicht zögerlich wieder in meine Richtung. „Er hatte schon das Telefon in der Hand und wollte dich anrufen, damit du mich wieder zur Vernunft bringst.“ Ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Anrufen? Mich?“
Sie nickte. „Aber ich habe ihn abgehalten.“
„Warum?“
Bella senkte den Blick. „Weil ich nicht wollte, dass du siehst, was für ein Monster ich geworden bin. Und weil ich Angst hatte, dass du mich nicht sehen wollen würdest. Eigentlich rechne ich immer noch damit, dass du jeden Moment schreiend raus rennst.“
Zärtlich legte ich ihr den Finger unters Kinn und hob ihren Kopf, bis sie mir in die Augen blicken musste.
„Natürlich wollte ich dich sehen. In all den Jahren habe ich nie eine andere Frau angerührt..“
„Ich weiß“, flüsterte sie. „Anscheinend hab ich dich für das gesamte weibliche Geschlecht verdorben.“ Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. „Es tut mir leid. Ehrlich. Ich wünschte, ich könnte die Zeit..“
„Shhh“, unterbrach ich sie und legte ihr den Finger auf die Lippen. „Lass die Vergangenheit ruhen, du kannst deine Entscheidungen nicht mehr ungeschehen machen. Vielleicht gibt es ja noch eine...“
Ein Hüsteln stoppte meinen Satz. Erschrocken fuhren wir beide herum.
„Aro hat angerufen“, kam es von Seth. „Er hatte einen kurzen Krampfanfall. Der Arzt meinte, es wäre besser, wenn du kommst.“
Bella nickte seufzend. „Die Kleinen schlafen noch?“
„Yepp. Der Wagen ist in drei Minuten da. Embry und Quil werden dich begleiten. Jake ist schon vor Ort. Ich bleibe hier.“
„In Ordnung“, sie atmete tief ein und wandte sich dann an mich. „Bleibst du hier? Bitte!“
Wie um alles in der Welt hätte ich diesem flehenden Blick widerstehen sollen?
Ich nickte knapp und ihr Gesicht hellte sich etwas auf.
„In einer Stunde bin ich zurück.“ Damit verschwand sie im Fahrstuhl, in dem bereits zwei dunkel gekleidete Typen auf sie warteten. Ebenfalls Indianer. Anscheinend hatte sich halb La Push zu ihrer Rettung versammelt. Irgendwie war der Gedanke beruhigend, dass sie während all der Jahre etwas Vertrautes um sich gehabt hatte.
Seth steckte die Hände in die Hosentaschen und kam auf mich zugeschlendert. „Ist alles okay?“, fragte er mitfühlend. „Am Anfang ist alles ganz schön heftig, oder?“
Langsam nickte ich. „Wie lange bist du schon hier?“
„Etwas mehr als drei Jahre.“ Er stellte sich auf den Platz, an dem bis eben noch Bella gestanden hatte. „Nach dem ersten Anschlag auf Bella hatte Jake mich angerufen und gefragt, ob ich einen Job brauche. Ich war völlig von den Socken von ihm zu hören, denn nach seinem Weggang hatte er sich nie mehr gemeldet. Richtig geschockt war ich aber erst, nachdem ich Bella und die Knirpse gesehen hatte. Ich hatte zwar davon gehört, dass ihr euch getrennt hattet, und wusste, dass sie mit Jake zu seiner Schwester gegangen war... aber die Beiden zu sehen, war echt heftig. Ich meine, die Vaterschaft kannst du ja schlecht abstreiten, oder?“
Kurz sah ich zu der Bilderwand, auf der mich mein Haarschopf in drei Variationen nahezu hundertfach anlächelte, und schüttelte dann den Kopf. Das konnte ich wirklich nicht, dafür sahen mir meine Kinder zu ähnlich. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus…meine Kinder. Das hörte sich verdammt gut an.
Ein paar Minuten lag sahen wir schweigend aus dem Fenster.
„Sie liebt dich immer noch“, kam es plötzlich von Seth. „Auch wenn sie es sich nicht eingestehen will... oder kann.“
Verwirrt sah ich zu ihm. Woher wollte er das denn wissen?
Er lächelte. „Edward, ich wohne seit fast drei Jahren hier und Bella spricht im Schlaf. Muss ich mehr sagen?“
„Sie träumt von mir?“
„Fast jede Nacht.“ Sein Blick wurde ernst. „Beim ersten Mal habe ich gedacht, jemand versucht sie abzumurksen so laut hat sie geschrien.“ Er machte eine kleine Pause. „Es sind verschiedene Träume. Sie ruft deinen Namen, bettelt dich an nicht zu gehen, sagt dass sie dich liebt, es ihr leid tut...manchmal weint sie auch einfach nur. Deswegen sind die Zimmer der Kinder in einer anderen Ecke. Sie will sie nicht wecken.“
„Sie weiß, dass sie schlecht träumt?“
„Sie hat wohl die Kinder dadurch ein paar Mal wach gemacht. Und als ich mitten in der Nacht mit gezogener Waffe vor ihrem Bett stand, wurde ihr klar, dass es so nicht weitergehen kann. Sie geht seit dem zu einem Psychologen, aber ganz aufgehört haben die Träume nicht. Sind nur etwas seltener geworden.“
Sie liebte mich? Immer noch?
„Aber warum hat sie sich nie bei mir gemeldet? Wir hätten doch eine Lösung finden können.“
Seth drehte seinen Kopf und grinste. „Weil sie ein verdammter Angsthase ist. Ich versuche schon seit Jahren, sie zu überzeugen, dass sie dich bei dir melden soll. Gefahr hin oder her.“
„Gefahr?“, fragte ich irritiert.
„Hast du die Narben nicht bemerkt? Oder warst du zu abgelenkt?“ Er zwinkerte mir zu.
Ich spürte, wie meine Wangen etwas rot wurden. Seth wusste wirklich, was wir im Büro getan hatten. Aber woher? Waren die Kameras etwa doch an gewesen?
„Öhm“, machte ich ausweichend.
„Keine Angst, ich hab weder was gesehen oder gehört. Aber man sah es euch an.“ Dann gluckste er.
„Okay. Ich gehe einfach mal davon aus, dass du einen Blick auf ihren Rücken erhaschen konntest, und dass sie dir erzählt hat, wie es dazu kam. Wahrscheinlich hat sie gehofft, dass du dann schreiend die Flucht ergreifst.“
Gehofft? Ich sah ihn verwirrt an.
„Bella ist ziemlich zerrissen, weißt du. Einerseits wünscht sie sich nichts sehnlicher, als deine Nähe. Andererseits denkt sie, du würdest sie hassen und fürchtet deine Zurückweisung.“
Gespielt boxte er mich gegen die Schulter. „Jedenfalls bin ich froh, dass Jasper sie überreden konnte Kontakt mit dir aufzunehmen.“
„Er hat sie überredet?“ Ungläubig sah ich zu ihm.
„Oh ja“, Seth kicherte. „Er hat ihr ziemlich zugesetzt. Jasper ist ja der Meinung, dass Aro sie ausnutzt, dass sie ihm wortwörtlich ihre Seele verkauft hätte. Aber Bella sieht immer nur seine Krankheit und das er sterben würde. Aber Fakt ist, sie könnte ihm das Knochenmark und Blut auch geben, ohne den ganzen Schnickschnack. Aber dieser Kerl hat nicht zugelassen, dass sie ihr Leben weiterführt. Er ist da sehr besitzergreifend. Und sie ist dadurch natürlich an ihn gebunden..“
„Du magst ihn nicht, oder?“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Sagen wir es mal so. Für ihn würde ich mir keine Kugel einfangen.“
„Daddy“, brüllten in diesem Moment zwei Stimmen. Schnell drehte ich mich herum und hockte mich hin, um meine Kinder in den Arm zu nehmen. Sie waren beide barfuss und steckten in gestreiften Schlafanzügen mit Winnie Puh drauf. Fest drückte ich sie an mich.
„Seth?“ Ich sah kurz zu ihm auf. „Danke.“
„Wofür?“, kam es überrascht von ihm.
„Für alles. Dafür, dass du für Bella da warst, als ich es nicht konnte.“
Das Lied zum Chap The Pierces mit „Secret“ (http://www.youtube.com/watch?v=HzNFwxsSPwU)
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