Der Rest des Frühstücks verlief schweigend.
Ich fragte mich die ganze Zeit, warum ausgerechnet sie auf mich aufpassen sollte. Nicht, dass mich das störte, im Gegenteil. Es war nicht davon auszugehen, dass ich mit irgendwem anders an einem Tisch sitzen und gemütlich frühstücken würde. Sicherlich hätte ich bei Wasser und Brot in meinem „Zimmer“ vor mich hin vegetiert..
Unauffällig versuchte ich sie zu mustern. Sie hatte die Ärmel des Shirts etwas hochgeschoben, an ihrem rechten Unterarm war der Ansatz eines Tatoos zu sehen. Allerdings konnte ich nicht erkennen um was es sich handelte.
Sie saß vollkommen entspannt da, so als könnte sie kein Wässerchen trüben. Eigentlich müsste ich nur über den Tisch greifen, mir die Waffe schnappen und den Wischmopp ausschalten. Und dann dem Typen, der sie vorhin Prinzesschen genannt hatte, ihr Gesicht mit der Waffe am Kopf präsentieren. Ganz einfach...
„Überlegst du dir gerade eine Fluchtmöglichkeit?“, fragte sie spöttisch. Anscheinend hatte sie meine Blicke doch bemerkt. Sie war aufmerksamer als ich dachte.
„Nein!“, sagte ich hastig. „Ich habe nur deine Waffe bewundert. Was ist das für eine?“ Das war nicht mal gelogen, in meiner Jugend war ich mal Sportschütze. Sogar ein recht guter. Und eine Waffe sagt eine Menge über deren Besitzer aus.
In einer einzigen fließenden Bewegung zog sie die Waffe aus dem Holster und wog sie jetzt in ihrer Hand hin und her. Lächelnd sah sie auf die Pistole. Ich kannte diesen Blick. Hatte ihn oft genug gesehen. Sie liebte ihre Waffe. Abgöttisch.
„Seth.“, sagte sie ruhig. Der Wischmopp sprang auf, setzte sich neben sie und sah erwartungsvoll zu ihr. Sie blickte kurz zu ihm und sagte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Dem Klang nach waren sie indianischen Ursprungs. Dann drehte sie ihren Kopf wieder zu mir, ließ das Magazin aus der Pistole rutschen und hielt mir die Waffe hin. Der Wischmopp fixierte derweil meine Hände.
Ich nahm ihr die Pistole ab und betrachtete sie eingehend. Das auffälligste war ihre schokobraune Farbe. Sie war sehr gepflegt. Ich kannte den Typ, aber nur in der Normalausführung. „Eine Sig Sauer?“, fragte ich nach.
„Yepp.“, entgegnete sie knapp und sah mich mit undefinierbarem Blick an.
„P225?“
Sie schüttelte den Kopf. „P226, 9 mm, 19 Schuss.“
„Du weißt, das in den USA mehr als neun Schuss illegal sind?“ Ich zog eine Augenbraue hoch.
Sie grinste und entblößte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. „Kannst mich ja bei den Bullen verpetzen, wenn du wieder draußen bist. Ich wette das wird Punkt 645 oder so in meiner Polizeiakte.“
Seufzend reichte ich ihr die Waffe. Grinsend schob sie das Magazin zurück und ließ sie zurück in ihren Holster gleiten. Mit einer Kopfbewegung entließ sie ihren Hund aus seiner Wachaufgabe.
Ihrem Blick nach zu urteilen, war ihr klar, dass ich etwas Ahnung von Waffen haben musste. Jedenfalls genug um zu wissen, dass eine Flucht, solange sie die Waffe hatte, unmöglich war.
Hätte sie nicht wie jeder verdammte Gangster da draußen eine einfache Glock haben können? Nein. Natürlich nicht. Madame musste ja eine Präzisionswaffe bei sich führen. Das ließ allerdings darauf schließen, dass sie nicht so häufig in wilde Schießereien verwickelt wurde. Denn da hatte eine Glock einen unschlagbaren Vorteil. Sie war schneller.
Die P226 dagegen war eher typisch für jemanden, dem es auf Genauigkeit ankam. Die US Navy Seals verwendeten diesen Typ. Ebenso das deutsche SEK. Und mein persönlicher Wachhund.
Scheiße!
Was die Glock ihr an Schnelligkeit voraus war, machte sie mit Präzision wett. Solange ich mich in einem Umkreis von 50 Metern befand, würde sie mich mit Sicherheit immer noch treffen können. Ohne Probleme. Denn ich ging davon aus, dass sie die Waffe nicht nur zum Dudeldei führte.
Und sie wusste, dass ich das wusste.
Scheiße!
Ob sie wohl schon jemanden damit getötet hatte?
Mein Blick ging zu ihrem unschuldig wirkenden Gesicht.
„Dreizehn.“, flüsterte sie mir zu.
Ich riss erschrocken die Augen auf. Dreizehn?
„Du wolltest doch wissen, wie viele ich damit schon erschossen habe, oder?“, fragte sie mit ruhiger Stimme. „Dreizehn Tote. Bei den Verletzten dürfte sich die Ziffer irgendwo bei fünfzig bewegen.“
Ich starrte sie immer noch an.
„Nicht, dass ich so schlecht schieße. Wenn ich denjenigen noch brauche, ziehe ich es vor, auf die Beine zu schießen.“ Sie war aufgestanden und begann den Tisch abzuräumen.
Ich konnte meinen Blick nur langsam von ihrer Waffe lösen.
Sie hatte tatsächlich schon jemanden getötet! Ich schätzte sie auf irgendwas Mitte Zwanzig. Für das Alter hatte sie wirklich schon eine Menge Blut an den Händen kleben.
„Da sind natürlich die nicht mitgerechnet, die ich anderweitig um die Ecke gebracht habe.“, fuhr sie in aller Seelenruhe fort, während sie den Geschirrspüler einräumte. „Als Doktor sind die Möglichkeiten vielfältig.“ Sie grinste schelmisch. „Und es ist nicht meine einzigste Waffe.“
Hatte es bisher vielleicht noch einen ganz kleinen Funken Hoffnung gegeben, hier irgendwie herauszukommen... zu fliehen.... gerade weil mein Wachhund nur ein Mädchen war... jetzt hatte ich alles begraben...
Anscheinend war sie wirklich nicht umsonst der Wachhund...
Verdammte Scheiße!
Ich hatte schon Überlegungen angestellt, ob ich sie vielleicht irgendwie bezirzen konnte... ihr Vertrauen gewinnen... sie dazu überreden, mir zur Flucht zu verhelfen... Aber das rückte jetzt alles in weite Ferne.
Plötzlich war ihr Atem an meinem Ohr. „Keine Angst, Baby. Ich habe nicht vor dir wehzutun.“ Ihr Atem strich über meinen Hals und meine Nackenhaare stellten sich auf. „Mhmmm. Du riechst gut.“, schnurrte sie neben mir. Mit angehaltenem Atem saß ich da und versuchte mich nicht zu rühren.
„Atmen, Baby, atmen!“, kicherte sie und hauchte mir einen Kuss kurz hinter mein Ohrläppchen. Ich erschauderte unter dieser Berührung und mein allerbester Freund erwachte zum Leben.
Super, der hatte mir gerade noch gefehlt.
„Komm mit!“, sagte sie während sie Richtung Tür lief. „Ich muss dir noch Blut abnehmen. Ich brauche deine Entzündungswerte.“
Ich schluckte und folgte ihr dann zögerlich. Sie hatte sich bereits Arzthandschuhe angezogen und klopfte mit der flachen Hand auf den Edelstahltisch in der Mitte des Raumes.
Der Tisch erinnerte mich an die, die in den ganzen Serien und Filmen immer für Autopsien verwendet wurden. Ich stellte mir lieber nicht vor, dass sie auf diesem schon mal jemanden aufgeschnippelt hatte.
Mit schnellen Schritten ging ich auf ihn zu und nahm Platz. Meine Beine baumelten in der Luft. Dann nahm sie mir Blut ab.
Als sie gerade die Kanüle abgezogen hatte und ich mit angewinkelten Arm da saß, klopfte es an der Tür.
Sie ging und öffnete diese.
„Hi Jake!“, hörte ich sie neben mir. Aus den Augenwinkeln sah ich einen großen Kerl der ins Zimmer trat, dann verschwanden beide aus meinem Blickfeld.
Doch die Geräusche, die ich hörte waren eindeutig. Er küsste sie. Oder andersherum. War ja auch egal. Die beiden knutschten jedenfalls rum. Was mich ankotzte. Ehrlich. Vorhin im Bad hatten ihre süßen Lippen kurz meine berührt. Und jetzt ließ sie sich von irgendso einem Typen abschlabbern...
HALT! Warum störte es mich, wenn sie jemanden küsste? Konnte mir doch egal sein, oder?
„Hi Schatzi.“, tönte eine kräftige Stimme, die ich als eine von gestern erkannte.
Plötzlich wurden meine Hände unsanft nach hinten gezogen und verdreht. Ich erschrak ein wenig, denn damit hatte ich bei Weitem nicht gerechnet.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Warum ist er nicht gefesselt? Und warum ist er nicht in der Zelle?“, brüllte der Typ.
Ich verzog schmerzhaft das Gesicht.
Autsch. Das tut weh, du Arschloch!
„Weil ich ihm gerade Blut abgenommen habe!“, schoss sie zornig zurück und löste meine Arme aus der Umklammerung. „Aaaargh! Dank dir hat es wieder angefangen zu bluten! Blödmann!“
Sie legte einen neuen Wattepad auf die Einstichstelle, legte meinen Daumen drauf und kippte meinen Arm nach oben.
Der Typ trat um den Tisch herum und lehnte sich, mit vor der Brust verschränkten Armen, gegen den Schreibtisch. Er war wirklich riesig. Sogar größer als mein Bruder Emmett, und der war schon um einiges größer und breiter als ich. Unter seinem schwarzen Shirt konnte man die gut definierten Muskeln sehen. Seine Haut war rostbraun, die Haare pechschwarz.: Definitiv indianischer Herkunft.
„Außerdem...“, fügte sie hinzu und legte besitzergreifend einen Arm um meine Schultern, „...hat er mir versprochen lieb zu sein. Nicht war, Baby?“
Ich nickte kurz. Es war wahrscheinlich besser, wenn ich mitspielte.
Der Typ schnaubte verächtlich. „Mir wäre es trotzdem lieber, wenn du etwas vorsichtiger wärst.“
Bella drückte mir einen Kuss auf die Wange und lachte laut. „Meinst du, er hat irgendeine Chance gegen mich? Du enttäuschst mich!“
Mit abschätzigen Blick wurde ich taxiert. „Er sieht aus, als hätte er trainiert.“
Hallo! Ich bin anwesend!
Die beiden redeten über mich, als wäre ich gar nicht da.
„Mhmm“, sie verwuschelte die Haare auf meinem Hinterkopf. Ich kam mir vor wie eine Art Haustier oder so was. „Ist der Trainingsraum frei? Dann könnte ich mit ihm etwas spielen gehen.“
Die Augen von diesem Jake glitzerten eigenartig. „Der müsste frei sein. Aber nimm Seth mit! Nnur für den Fall...“
„Du hast wohl gestern was gegen den Kopf bekommen, huh ?“, schnaubte sie neben mir. Ihre Hand war inzwischen auf meinem Nacken gelandet und massierte ihn mit kreisenden Bewegungen.
Fuck...das tat vielleicht gut..
„Könntest du vielleicht mal damit aufhören, ihn zu betatschen!“, kam es knurrend von ihm.
„Eifersüchtig?“, entgegnete sie, hörte aber nicht auf.
„Doch nicht auf so was.“, zischte er leise, dann verzog er den Mund zu einem Grinsen. „Ich wette, er kann es dir nicht so besorgen, wie ich.“
„Jake, manchmal bist du so ein Arschloch, echt!“, sie verdrehte die Augen und begann über meinen Rücken zu streicheln. Dann lächelte sie plötzlich verschmitzt. „Aber ich kann es ja mal ausprobieren und dir dann Bescheid sagen.“
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Das würdest du nicht tun!“
Sie zuckte mit den Schultern, ihre Hand wanderte auf meinen Bauch. Mit dem Zeigefinger malte sie Kreise um meinen Bauchnabel.
Die Beule in meiner Hose wurde immer größer. Ich hoffte, dass sie es nicht bemerkten. Scheiße, ich kam mir vor wie ein Stück Vieh auf dem Markt...oder ein Spielzeug...jedenfalls nicht wie ein selbstständig denkendes Wesen.
„Du wirst drei Monate weg sein...das ist eine sehr lange Zeit.“, merkte sie an, wobei sie 'lange' besonders betonte.
Er erhob sich und baute sich bedrohlich vor ihr auf. Allerdings schien sie das überhaupt nicht zu beeindrucken.
„Ich hab dir schon mal gesagt, dass du mich gerne begleiten kannst. Aro hätte bestimmt nichts dagegen!“, knurrte er.
„Ich kann hier nicht weg.“, entgegnete sie ruhig.
„Wegen dem Scheißer? Um den kann sich auch jemand anders kümmern!“, schnaubte er mit Seitenblick auf mich.
„Das habe ich gestern gesehen! Außerdem hat Markus nächsten Monat ein paar Operationen, da muss ich hin.“
Er legte seine riesigen Hände an ihre zarten Wangen und blickte ihr tief in die Augen.
Am liebsten wäre ich ein Stück weggerutscht. Ich wollte nicht so nah an dem Typen sein, aber Bella hatte immer noch den Arm um mich gelegt.
„Ich werde dich vermissen.“, flüsterte er leise.
„Mhmmm. Mich und Leah, und was weiß ich wen noch so...“, flüsterte sie grinsend zurück.
„Schatz, du weißt du bist die Beste... nicht die Einzigste...aber definitiv die Beste!“, gab er seufzend zurück.
„Und warum soll ich dann nicht meinen Spaß haben dürfen?“Ihre Hand lag nun auf meinem Oberschenkel und sie malte mit den Fingerspitzen Linien darauf.
Der Typ schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. „Mach was du willst! Aber wem sage ich das? Das machst du ja sowieso!“
„Eben. Anderes Thema, obwohl eigentlich ist es nichts anderes, kommst du heute Abend vorbei?“ Sie streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen seinen Oberkörper hinab. Dabei biss sie sich lasziv auf die Unterlippe.
Das war mir hier irgendwie alles zu hoch. Sie machte mich eindeutig an, anders ließen sich ihre Berührungen nicht deuten – beschwerte sich bei dem Typen, dass er auch andere hatte – und dann fragte sie ihn, ob er heute Abend vorbeikommen wollte. Und ihr Blick sah nicht aus wie lass-uns-nen-Film-gucken. Eher wie vögel-mir-das-Gehirn-raus.
„Liebend gerne! Ich könnte gegen zehn da sein.“ Er lächelte.
„Dann bis heute Abend!“ Auf einmal stand sie vor ihm und schob ihn regelrecht zur Tür hinaus und lehnte sich dann seufzend gegen die Tür.
„Hat es aufgehört zu bluten?“, fragte sie nach einer Weile.
„Ähh...“, ich räusperte mich, „Ich glaube schon.“ Langsam ließ ich den Arm nach unten sinken und nahm das Wattepad ab. Kein Blut mehr zu sehen.
„Gut, dann gehen wir jetzt etwas spielen. Ich muss dir draußen allerdings Handschellen anlegen, sonst stellen die anderen blöde Fragen.“
Fünf Minuten später stand ich, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen in Handschellen vor der Tür. In Jogginghosen. Bella packte mich am Arm und führte mich einen dunklen Flur entlang. Wir begegneten keiner Menschenseele, aber alle paar Meter hing eine Überwachungskamera an den Wänden.
Scheiße! So viel zum Thema unentdeckte Flucht...
Plötzlich hielt sie an, öffnete eine Tür und führte mich in einen Raum, der zum größten Teil mit Tatamimatten ausgelegt war.
Sie entfernte mir die Handschellen .
„Zieh Schuhe und Socken aus.“ kommandierte sie. Ich folgte ihrer Anweisung und stellte mich barfuß auf die Matten.
Es war mir ein Rätsel, was sie jetzt vorhatte.
Sie hatte ebenfalls die Schuhe und Socken ausgezogen und stellte sich in etwa fünf Meter Entfernung mir gegenüber.
„Okay, Baby! Wir spielen jetzt ein kleines Spiel. Du versuchst an meine Waffe zu kommen. Du hast dafür solange Zeit, bis ich dich dreimal zu Boden befördert habe.“
„Und was bringt mir das?“ fragte ich irritiert.
„Ganz einfach, schaffst du es an die Waffe zu kommen, lasse ich dich frei...versprochen!“
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Muse „Hysteria“
Bellas Waffe aka Sigi:
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